Hochschule Reutlingen
04.11.2025

Im Interview: "Technologie muss sich dem Menschen und seinem Anwendunsfall anpassen - nicht umgekehrt."

Johanna Riedel, Absolventin des Masterstudiengangs Interdisziplinäre Produktentwicklung, präsentierte eine Peer-Review-Veröffentlichung zu ihrer Abschlussarbeit auf der Designkonferenz ICED in Dallas.

Johanna Riedel präsentiert die Peer Review zu ihrer Masterthesis "Entwurf benutzerorientierter Wearables" auf der Designkonferenz ICED25 in Dallas, Texas

Johanna Riedel absolvierte im vergangenen Jahr den Masterstudiengang Interdisziplinäre Produktentwicklung an der TEXOVERSUM Fakultät Textil. Aus dem Forschungsprojekt ihrer Abschlussarbeit zum Thema "Entwurf benutzerorientierter Wearables" ist eine wissenschaftliche Veröffentlichung entstanden, die sie im Sommer auf der renommierten Designkonferenz ICED25 in Dallas, Texas, präsentiert. Im Zentrum ihrer Thesis steht die Integration eines thermoelektrischen Moduls zur Klimatisierung in Motorradschutzkleidung. Wir haben mit ihr über ihre Forschung, Herausforderungen und die Bedeutung nutzerzentrierter Entwicklung gesprochen.

 

Frau Riedel, was war der Ausgangspunkt Ihrer Masterarbeit?

Die ursprüngliche Idee besteht bereits etwas länger: Motorradfahrer:innen sind besonders bei hohen Außentemperaturen in ihrer Temperaturregulierung eingeschränkt. Das Tragen von Schutzkleidung heizt den Körper zusätzlich auf und kann zu Überhitzungserschei-nungen wie verstärktem Schwitzen, Konzentrationsverlust und Schwindelgefühl führen. Die schützende Motorradjacke wirkt sich dann eher kontraproduktiv auf die Sicherheit beim Fahren aus. Umgekehrt gilt es auch für kalte Umgebungstemperaturen: Kühler Fahrtwind führt dann beispielsweise dazu, dass den Fahrenden die Finger schneller kalt werden und dadurch die Konzentration auf das Verkehrsgeschehen sinkt.

Was war das Besondere an Ihrem Ansatz?

Bisherige und auf dem Markt erhältliche Lösungen zur Thermoregulierung sind entweder nur auf eine Funktion (Heizen ODER Kühlen) ausgelegt, benötigen lange Vorbereitungszeit (z.B. Eisweste, die im Gefrierfach gekühlt werden muss) oder sind ein zusätzliches Produkt, das zur bestehenden Schutzkleidung ergänzend getragen wird.

Unser Ansatz stellte Nutzer:innen in den Mittelpunkt und fokussierte sich darauf, eine kleinflächige Lösung, die sowohl heizen als auch kühlen kann, in einen bestehenden Schutzartikel zu integrieren. Hierzu haben wir drei verschiedene Integrationskonzepte entwickelt und diese mit Nutzer:innen in einem Motorradkontext getestet.

Worin unterschieden sich die Konzepte?

Mit dem Team meines Projektpartners zusammen haben wir drei Varianten von Prototypen gebaut: eine fest integrierte Lösung in der Jacke, eine modulare Variante mit Magnetbefestigung und eine unabhängige Version, die wie ein Armband getragen wird. Alle drei enthielten ein funktionierendes Peltier-Modul mit Kühl- und Heizfunktion, folgten aber teilweise leicht abgeänderten Aufbauvariationen und hatten verschieden große Auflageflächen. 

Was hat der Praxistest ergeben?

Alle Proband:innen spürten die Temperaturveränderung bei allen Varianten – die Art der Integration beeinflusste also nicht die reine Funktionalität. Interessant war aber, dass die Aufmachung der Module – also welche Materialien für den Hautkontakt verwendet wurden und wie groß die Auflagefläche war – das Temperaturempfinden der Testpersonen stark beeinflusst hat. Und zwar so sehr, dass die modulare Variante (mit zusätzlicher Materialschicht und größerer Auflagefläche) als „deutlich komfortabler“ empfunden wurde. Die integrierte und die unabhängigen Variante, die beide nur durch eine dünne Kupfer- oder Textilschicht und mit kleinerer Fläche auf der Haut auflagen, wurden hingegen als „punktuell“, „störend“, „ablenkend“ und „irritierend“ beschrieben.

Gab es weitere überraschende Erkenntnisse beim Testen der Protoypen?

Überrascht waren wir davon, dass nicht nur der Temperaturunterschied einen Einfluss auf das Sicherheitsgefühl der Proband:innen hatte, sondern auch die Art der Integration. Die fest integrierte wurde als am wenigsten störend empfunden und vermittelte das größte Sicherheitsgefühl. Die modulare und unabhängige Lösung hingegen führten häufiger zu Unsicherheiten – etwa durch das Gefühl, das Modul könnte sich lösen oder beschädigt werden.

Was bedeutet das für die Produktentwicklung im Bereich Wearables?

Technologie darf nicht nur technisch funktionieren – sie muss sich in den Alltag der Nutzer:innen einfügen. Gerade bei sicherheitsrelevanter Kleidung wie Motorradjacken ist es entscheidend, dass neue Funktionen nicht ablenken oder irritieren. Mein Projekt zeigt, dass nutzerzentrierte Entwicklung nicht nur Komfort, sondern auch Sicherheit erhöhen kann.

Was haben Sie aus Ihrem Masterstudiengang „Interdisziplinäre Produktentwicklung“ ins Berufsleben mitgenommen?

Neben den wertvollen Inhalten habe ich vor allem eine tiefgreifende Forschungshaltung mitgenommen – den Mut, bei Problemen „die Büchse der Pandora zu öffnen“, also nicht vorschnell über Schwierigkeiten hinwegzugehen, sondern deren Ursachen zu hinterfragen. Diese Herangehensweise hilft mir heute sehr dabei, komplexe Themen im beruflichen Kontext strukturiert anzugehen – auch wenn das in etablierten Strukturen manchmal Diskussionsbereitschaft erfordert.

Das interdisziplinäre Umfeld des Studiengangs hat mir außerdem gezeigt, wie wichtig es ist, unterschiedliche Perspektiven wertzuschätzen und veraltete Denkmuster zu hinterfragen. Diese Offenheit bereichert meine Arbeit enorm und trägt zu einer konstruktiven Zusammenarbeit im Unternehmen bei.

Last but not least bin ich einfach dankbar für die Studienzeit am TEXOVERSUM, weil wir nicht nur viel Spaß zusammen hatten, sondern auch enge Freundschaften entstanden sind. Das sind dann wohl die Vorzüge eine kleinen, aber feinen Studiengangs.

Heute bin ich als Development Managerin beim Hohenstein Institut tätig und kann mir gut vorstellen, noch eine Promotion draufzusatteln. Die wissenschaftliche Arbeitsweise und hervorragende Betreuung im Master – vor allem durch Prof. Martin Luccarelli – hat mich derart gefördert, dass ich jetzt sagen kann: „Lust auf mehr“ und ich traue mir eine Doktorarbeit auch zu. 

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Riedel. Dann wünschen wir Ihnen alles Gute für Ihren weiteren Karriereweg und freuen uns auf ein Wiedersehen auf dem Campus!

 

Und hier ein paar Eindrücke:

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